Das Netz in uns – Eine kopernikanische Wende. Über Krieg, Medien und Demokratie

Ohne vertrauenswürdige Medien und Netzwerke wird es keine Gewaltenteilung, keine Demokratie, keine freien Menschen und keine klugen Entscheidungen mehr geben.

Eine der dunkelsten Stunden der Nachkriegsgeschichte war sicher 9/11. Den Tiefpunkt erreichte der Tag aber nicht im Moment der Flugzeugeinschläge oder im Momemt des Einsturzes, sondern als der amerikanische Präsident George W. Bush ans Rednerpult trat und den Krieg verkündete.

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Denn im Krieg gibt es nur Freund oder Feind. Nicht nur ist es die größte Selbsttäuschung und Selbsterniedrigung des Menschen, nur noch schwarz oder weiß sehen zu wollen. Sondern es ist auch der freiwillige Rückzug in die Höhle Platons, wo die Wirklichkeit nur noch Schattenwurf ist. Kriegszustand: Das ist die freiwillige Fesselung an den Fels, die in ihrer Beschränkung wiederum so viel Überheblichkeit nährt, dass ihr eine Botschaft über Licht und Farben von außerhalb der Höhle zwangsläufig als Verrat gelten muss. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es ist die Aufhebung aller kultureller Leistungen der Differenzierung zugunsten eines vor-archaischen, einfachen Unterschieds. Manche Halbaffen sehen schwarz-weiß, Ratten, einige Käfer.

Wo es nur Freund oder Feind und keine Differenzierungen gibt, kann es auch keine Demokratie geben. Demokratie entsteht aus Machtbalancen und Vermittlung. Ohne Unterschiede, ohne Gewaltenteilung, ohne freie Medien wird auch aus Demokratie Totalitarismus. Also vor allem, wo sie einen Krieg verkünden kann. Das lehrt die Geschichte, nicht nur die deutsche, sondern auch die amerikanische. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ – sagte schon Kaiser Wilhelm der II. 1914. Amerika bereitete den Vietnam-Krieg schon vor, bevor es Angriffe Nordvietnams auf US-Kriegsschiffe im Golf von Tonkin behauptete („Pentagon Papers“ – Vom frühen Whistleblower Daniel Ellsberg der Presse übergebene Top-Secret-Untersuchung zur amerikanischen Verstrickung und Manipulation der Öffentlichkeit in den Vietnam-Krieg). „Jedes Land in jeder Region muss sich jetzt entscheiden – entweder es steht an unserer Seite oder an der Seite der Terroristen“ – sagte George W. Bush. Und er meinte nicht nur Afghanistan und die Unterstützung der Taliban für Al-Qaida.

Plato’s Cave – Erzählt von Orson Welles

Die Kriegserklärung wirkte – wie jede andere – auch nach innen.  Es wurde ein Ausnahmezustand geschaffen, der schließlich im Patriot Act mündete, der (zunächst befristet, später verlängert) fundamentale Grundrechte einschränkte und teilweise die Gewaltenteilung in den USA aufhob. Dazu zählen die Erlaubnis härterer Foltermethoden, dass Telefongesellschaften und Internetprovider ihre Daten offenlegen müssen und die Genehmigung, dass der weitgehend nicht demokratisch kontrollierte CIA auch im Inland ermitteln darf.

Dass ein Krieg immer auch nach innen geführt wird und wirkt, ist einer seiner Grundeigenschaften – genau deshalb ist der Krieg kein Sonderfall, sondern Mittel zur Stabilisierung der Herrschaft.  Denn: „Die Risiken des Friedens sind höher einzuschätzen als die des Krieges“, verkündete schon eine Studie (Iron Mountain Report, 1967 – Wikipedia), die John F. Kennedy noch in Auftrag gegeben habens soll. Es ist später behauptet worden, die Studie sei ein Werk des Satirikers Autor Leonard Lewin. Doch die Entwicklung seit Verkünden des „War on terror“ scheint die Kernaussage des Reports zu bestätigen.  Wo es der Macht tatsächlich gelingt, ihre Kontrollen abzuschütteln, wo sie sich unbeobachtet fühlt – entwickelt sie sich zum Despotismus. Ob es nun in der Absicht der amerikanischen Administration lag oder nicht: Genau das geschieht, wenn Geheimdienste, Militär und Regierungen weniger kontrolliert werden und wenn Überwachung durch Gerichte und Gesetze kaum noch begrenzt wird. Deshalb sagt Oliver Stone, der den Iron Mountain Report in seiner Documentary-Serie „Untold History“ erwähnt, zum Vorwurf, es handle sich um Satire: „Nothing that changes the big story“ (Artikel der New York Times über Stones Filmprojekt).

Die schwer kontrollierbare und meist kaum durchschaubare Manipulation von Medien spielt in jeder Proaganda eine entscheidende Rolle, insbesondere trifft das natürlich auf die Massenmedien zu. Im Deutschen Reich gelang es der Politik, die erfolgreichen neuen Medien für ihre Zwecke zu manipulieren. Kreative Köpfe und Künstler mussten auswandern, wurden zu tragischen Figuren oder Märtyrern. Das berechtigte Bedürfnis der „Massen“, die neuen Medien zu nutzen (wie von Walter Benjamin beschrieben), wurde gnadenlos ausgenutzt, um vergiftete Botschaften zu transportieren – binäre Feindbilder, schwarz/weiß … bis die Bösen ihr Zeichen auf der Brust und auf der Haut tragen mussten.

Der sogenannte innere Burgfrieden der Deutschen im ersten Weltkrieg, die Gleichschaltung von Presse, Theater, Radio und Film durch die NSDAP im Dritten Reich, die versuchte (und schließlich gescheiterte) Kontrolle von New York Times, Washington Post und anderer Verlage in den USA: Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert das Volk.

Bundesarchiv Bild 183-1990-1002-500, Besuch von Hitler und Goebbels bei der UFA
Hitler und Göbbels bei einem Besuch der UFA Filmstudios
Das „berechtigte Bedürfnis der Massen“, die Medien für sich zu nutzen (wie von Walter Benjamin beschrieben), wurde und wird von Regierungen rücksichtslos dazu missbraucht, um gefälschte Botschaften in Köpfe und Herzen zu transportieren.

Aber seit den Neunzigern stört ein neuartiges Medium die innere Kriegsführung:  Das Internet.

Wenn es stimmt, dass das „Medium die Botschaft“ ist – dann war die Botschaft des Internet eine neuartige, hierarchiefreie und schwieriger zu kontrollierende Kommunikation Vieler mit Vielen – ganz im Gegensatz zum Fernsehen, das ein Medium Weniger für alle war. Die Vernetzung erlaubte eine demokratische, emanzipatorische Explosion der Öffentlichkeit in Teilöffentlichkeiten, es erlaubte Rückkanal-Antworten von „unten“ (während „Bürgerkanäle“ im Fernsehen und Radio immer demokratische Utopien geblieben sind) und Gegenöffentlichkeiten bis hin zu Wikileaks und Co.

Das Internet versprach also etwas einzulösen, wovon Berthold Brecht in seiner Radiotheorie und viele Jahre später Hans Magnus Enzensberger laut geträumt hatten: „Ein unmanipuliertes Schreiben, Filmen und Senden gibt es nicht. Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen.“ (Kursbuch 20/1970, zitiert nach Wikipedia/Medienbaukasten).

Der Erfolg von Blogs, von sozialen Plattformen wie MySpace, StudiVZ oder Lokalisten und der Siegeszug von Facebook und Twitter schien geradezu wie die Befreiung bislang verborgener Bedürfnisse und eine Entfesselung von Kreativität. Jeder 7. Erdenbürger zwischen 0 und 100 Jahren besitzt heute einen Selbstverlag. Der Homo sapiens, der die Medien zur Selbstvergewisserung zu brauchen scheint wie ein Kleinkind den Spiegel zum ersten „Ich-Erlebnis“, hat sich „Online“ neu erfunden: unabhängig von Raum und Zeit, fähig zu Kooperation und gegenseitiger Hilfeleistung, als vernetzter Entdecker, Forscher, Entrepreneur und Künstler.

Eine Revolution? Zumindest stellt das Internet alte Machtverhältnisse und Interpretationsmonopole fundamental in Frage. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Krieg der amerikanischen Administration 2001 begann, als die Zahl der Webseiten im Netz schon die Grenze von 1 Milliarde erreicht hatte.

Das Internet – als Forschungsverbund von Militärlaboratorien entstanden –  wurde zum Versprechen, als es mit der Entwicklung des World Wide Web am CERN in Genf und seiner Freigabe für die Öffentlichhkeit im Jahr 1993 schließlich auch für Laien nutzbar wurde. Die Entwicklung der ersten Browser (Mosaic, später Netscape Navigator) und Web-Anwendungen lebte von der Kreativität und Begeisterung von Studenten, jungen Firmengründern und dem Interesse von Millionen „Usern“ weltweit. Am schnellen Erfolg der weltweiten wissenschaftlichen Kooperation gegen tödliche Epidemien wie SARS zeigte sich: Das Internet war auch ein Quantensprung für die Forschung.

Mit dem WWW war also der Geist weltweit vernetzter Kommunikation aus der Flasche.

First Web Server
Der erste Internet-Server, konfiguriert von Tim Berners-Lee an CERN, Genf
Ein Geist aus der Flasche ähnlich der der allgemeinen Bildung, der mit dem Buchdruck ab dem 15. Jahrhundert das Schrift- und Wissensmonopol des Ordensklerus gesprengt hatte. Eine Explosion, deren Schockwellen nicht nur die Institution Kirche nach wie vor erschüttern. Die Kriegserklärung der Kirche galt ab 1500 nicht mehr Häretikern und Abergläubigen, sondern „Anders“ Gläubigen – also jenen, die das schwarz-weiß-System gläubig/ungläubig zu sprengen versuchten. Auch wenn man den Buchdruck nicht allgemein bekämpfte – schließlich standen einige der ersten Druckerpressen auch in Klöstern Europas. Die herrschende Institution war klug genug, das neue Medium für sich zu nutzen.

Aus heutiger Sicht ist der „Krieg gegen den Terror“ also nur ein Teil des Feldzugs. Heute soll wieder ein neues Medium kontrolliert werden – und der Krieg erlaubt jede Art von Grenzüberschreitung, sei sie persönlich, rechtlich, technisch, wirtschaftlich oder moralisch. Der digitale „Ringschluss“ von Geheimdiensten, Regierungen und Wirtschaft macht die Manipulation und die Überwachung heute effektiver und totaler als früher. Riesige Datenspeicher, atemberaubende Rechengeschwindigkeiten, unbegrenzte Budgets und digitale Schnittstellen zwischen früher getrennten Informationsnetzen: Nie zuvor war Überwachung so breit und so effektiv möglich.  „Ein Netz annähernd globaler Überwachung, das einige wenige Staaten mit Hilfe privater Firmen aufbauen“ – das ist, so der Cypherpunks-Coautor Jacob Appelbaum  (zitiert nach Spiegel Nr. 28/8.7.13, S. 24), weder Paranoia noch Verschwörungstheorie, „sondern ein Geschäftsmodell“. Ohne Grenzen, ohne Kontrolle und ohne Richter erobert es derzeit die Macht über die digitale Infrastruktur der medialen Kommunikation.

Eine Infrastruktur, die Marshal McLuhan bereits in den 1960ern als erweitertes zentrales Nervensystem des Menschen beschrieben hat. Heute ist der Realitätssinn erst recht ein Mediensinn, und so greift der neue Herrschaftsanspruch weit in unsere Sinne, in unser Wirklichkeitsverständnis und in unser Selbst hinein.

Willkommen zurück in dem kleinen Dorf, dessen Enge wir verlassen hatten. Mit den Global Village (ein von Marshal McLuhan popularisierter Begriff) holt uns nicht nur das Heimelige ein, das einem Dorf häufig eigen ist – und das auch ein Facebook-Profil ausstrahlen kann als erweiterter Kokon der Persönlichkeit – sondern auch das Enge, das zu Intime. Das Dorf beeinflusst dein Verhalten, deine Persönlichkeit. Du lebst nicht nur im Dorf, sondern das Dorf auch in dir.  Das zentrale Biotop des Homo sapiens – die Konstruktion der Realität mittels des Medialen – ist besetzt und überwacht.

Diese Welt, diese Kultur, die das Internet gerade erlaubte, sie auch zu unserer eigenen zu machen,  gehört weiterhin nicht uns. Wir werden zwar geduldet als Konsumenten, aber auch verfolgt als potentielle Täter. Wir werden manipuliert, wo Beweise benötigt werden und abgeschaltet, wo wir stören. Politisch sind wir kaum weiter als zu Zeiten von Stasi oder Watergate, nur technisch ist das Ganze perfekter geworden. Eine Medienwelt, die total-überwacht, die Fallen stellt, Identitäten fälscht und das Ich aus dem Zentrum verbannt, taugt aber nicht mehr gut als Heimat des Menschen. So gesehen geht es bei PRISM, Tempora, bei der Ring-Koalition aus Staat, Militär und Wirtschaft nicht nur um Überwachung, um Werbung oder um Inhalte einer „Kulturindustrie“.

Auf dem Spiel steht unser Realitätssinn überhaupt – was wir für wahr, für richtig, für wichtig halten und was nicht. Wozu wir schweigen und wobei wir mitmachen. Der Realitätssinn ist die Grundlage unserer Identität und Existenz. Wenn wir unserem Realitätssinn nicht mehr trauen können, der heute auf digitale Medien angewiesen ist, dann droht tatsächlich der Rückzug in die Höhle. Differenzierung, Demokratie und weise Entscheidungsfindung werden ohne ausreichend vertrauenswürdige Medien und Netzwerke nicht mehr möglich sein.

Flammarion
Darstellung der kopernikanischen Wende in einem Holzstich (19. Jahrhundert)

Das Internet ist nicht nur um uns herum, es reicht weit in uns hinein. Diese Lehre aus den Veröffentlichungen von Edward Snowdon bedeutet so etwas wie eine kopernikanische Wende. Unsere Gegenmittel sind Aufklärung und unser Wille auf Beteiligung und Transparenz im medialen Prozess zu bestehen. Hacking und Whistleblowing sind so gesehen Notwehr gegen die Übergriffigkeit des politisch-kapitalistischen Macht-, Geschäfts- und Wahrheitsmonopols. Ein Hacker, ein Whistleblower reicht aus, um ganze Lügengebäude zu enttarnen. Jeff Jarvis schreibt im Guardian, nicht die Privatspähre sei tot, sondern die Geheimhaltung.

Die Koperniki von heute heißen tatsächlich Manning, Assange oder Snowden, und die Agenten einer neuen Renaissance und Resistance sind Organisationen wie die Electronic Frontier Foundation, die Chaos Computer Clubs oder die OpenSource Programmierer und jeder Einzelne, der medienkritischen Widerstand leistet.

Widerstand nicht nur gegen die Überwachung, sondern auch gegen die politische Verharmlosung. Denn ohne ausreichend vertrauenswürdige Medien und Netzwerke wird es wohl auch keine Gewaltenteilung, keine freie Presse, keine Demokratie und keine freien Menschen mehr geben.

In leicht gekürzter Version auch veröffentlicht beim „Freitag“ unter dem Titel „Realitätssinn, digital manipulierbar“.

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1 Kommentar

  1. Ein großes Dankeschön.
    Realistischer, nüchterner und schlichter Bericht, dies von 1914, bis heute, also hundert Jahre Vergangenheitsgeschichte, fein säuberlich aufgelistet, für mich hochinteressant.

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